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Aufgabe – Von Ulf Brinkmann

Duschen. Das Wasser läuft mir warm den Rücken runter. Die Gedanken treiben. Einen Text schreiben. Über einen Friedhof. Sennefriedhof. Zum Geburtstag. Absurd? Runter vom Ostwestfalendamm. Auf den Ring und dann hinter dem Haupteingang rechts auf den Parkplatz. Unna, Karlsruhe, Bremen. Menschen von auswärts. Kurz noch im Auto sitzen bleiben. Sammeln. Der Tod ist mir unheimlich. Durch die Pforte am Gatter. Rechts eine Informationstafel. Erst mal einen Überblick. Alte Kapelle und Wasserbecken. Abstecher zum Feld der gefallenen Soldaten. Sind sie vergessen? Niemand scheint sich um das einzelne Grab zu kümmern. Todesdaten. Viele hatten sicherlich keine Kinder. Und wenn? Die meisten wären schließlich auch schon alt oder tot. Wieder die immerwährende Frage nach Sinn und Unsinn. Haben wir nichts gelernt…? Es riecht nach Kiefer und Nässe. Die Geräusche des Rings werden leiser. Vogelzwitschern. Ein Brummen bleibt. Es ist wie ein Dimensionswechsel. Ein unbefestigter Weg. Birkenrinde und Gras. Rechts und links Gräber. Alt und neu. Wichtig und bescheiden. Nüchtern und pompös. Grosse Steine für ganze Familien. Platten für einen geliebten Menschen. Geburtsdaten die älter sind als der Friedhof. 1869. 150 Jahre. Wer mag sie gewesen sein. Und er ? Gefallen 1943 irgendwo in Russland. Links runter zur Kapelle. Eingerüsteter grauer Betonrundbau. Aufhübschen für das Fest? Feiert man Beerdigungen? Das Wasserbecken liegt rechts. Wunderschön. Nichts drückt Ruhe so klar aus, wie unbewegtes Wasser. Keine Welle, kein Kräuseln. Still ruht der See. Die Allee hinter der Kapelle erinnert mich an einen königlichen Park. Allerdings Asphalt statt Schotter. Bestimmt praktischer. Weiter den Weg hinab. Ohne Ziel. Rechts rein. Plötzlich blitzen Sonnenstrahlen durch die Bäume. Umgeben einen Grabstein mit einem Engel wie eine Aura. Überirdisch. Feenhaft. Eine alte Grabstätte, trotzdem gepflegt. 4 Generationen. Wie viele Jahre sind das? Es riecht nach Wald. Nicht nach Tod. Die Schritte werden federnd. Der Belag wieder weicher. Tau- oder Regentropfen. Ich weiß es nicht. Egal. Es glitzert trotzdem. Gräber. Überall. Wie viele mögen es sein? Kinderlachen! Ungewohntes Geräusch an einem Platz der Stille. Geburt ? Der erste Tag auf dem Weg zum Tod? Weiter gehen. Der Weg öffnet sich auf einen kleinen Platz. Im Kreis Grabplatten. Die Namen haben nichts miteinander zu tun. Gibt es einen Grund, daß sie hier im Tod zusammen liegen? Zufall? Ich trete irgendwo aus dem Kreis. Ich weiß schon lange nicht mehr wo ich bin. Auf einem Friedhof kann man sich nicht verlaufen…Oder? Irritiert bleibe ich stehen. Zwei Steine direkt vor mir. Ich verstehe kein Wort. Ornamentreiche Schrift. Irgendwas Arabisches. Mitten auf einem Friedhof in Westfalen? Aber stimmt. Alle Menschen sterben. Alle müssen irgendwo hin. Ihre letzte Ruhe finden. Man hat ihnen einen schönen Platz ausgesucht. Es wird Zeit. Zeit zu gehen. Vieles erspare ich mir. Ich möchte keine Kindergräber sehen. Ich habe einen Sohn. Auch ich verdränge diese Gedanken. Der Tod ist mir unheimlich. An weiteren Gräbern vorbei. Ein bisschen verliert man die Scheu. Manchmal traut man sich näher zu gehen. Wenn der Grabstein besonders ist. Dann will man wissen wer dort begraben liegt. Manche Namen klingen vertraut, Andere fremd. Wie lang spaziere ich schon. Der Gedanke vom Friedhof verliert sich. Ein bisschen Park. Ich bleibe noch einmal stehen. Eine Lichtung. Hier. Hier wäre es schön. Mein Sohn würde es bestimmt auch schön finden. Es wird kalt am Rücken. Das warme Wasser ist zu Ende. Wie lange war ich weg?
 

Schattenläufer - Von Frau Warnek

Ein Rascheln durchbrach die Stille. Die uralte Wächterin der Weisheit neigte den Kopf. Ihre bernsteinfarbenen Augen und ihr feines Gehör machten sie zu einer Spionin der Nacht, die alles verbarg, und zur gefährlichen Jägerin. Tageslicht brauchte sie nicht, um erfolgreich zu sein. Sie spürte den warmen Atem des Sommerwindes, wie er entlang der Birkenrinden strich; ihr neue Botschaften sandte und sie koste. Das helle Kinderlachen, das hier oft in der Mittagszeit erklang und daran erinnerte, wie nah das Leben neben dem Tode stand, war längst in der Dämmerung verhallt, ließ den Ort der inneren Ruhe noch stiller erscheinen. Einzig das monotone Rauschen entfernt vorbeifahrender Autos ebbte nie ab. Heute Nacht würde wieder einmal ein Mord geschehen. Er war nicht zu verhindern. Die Magie des Vollmonds lockte sie an, die Opfer wie die Täter. Bizarre Schatten tauchten die Wiesen nahe den Grabstätten in hellere und dunklere Zonen. Bekannte Formen verloren an Konturen, die Phantasie, die launische Gefährtin, erschuf alles neu. Es roch nach Waldboden. Würzig und unverkennbar. Sie kamen aus südlicher Richtung, verließen die offenen Sandflächen, Wärmespeicher der untergegangenen Sonnenenergie, zupften hier Gräser, da Moose und Wildblüten und standen unversehens im hellen Schein des Mondes. Schutzlos. In der Gruppe fühlten sie sich geborgen. Labten sich an dem Tau und foppten sich. Von Oben betrachtet, bot sich der Wächterin der Weisheit ein Bild des Friedens. Trügerisch, das wusste sie. Denn den rötlichbraunen Schatten, der nun grau und konturlos mit seinem Umfeld verschmolz, bemerkte die ausgelassene Gruppe nicht. Verzeihlich, dennoch tödlich. Er galt als schlauer Meister des Fährten Lesens. Nahezu lautlos schlich er sich an, fixierte die Gruppe mit scharfem Blick. Instinktiv erkannte er sein Opfer. Eine von ihnen war bereits verloren, noch ohne es zu ahnen. Einzig der uralten Wächterin hoch oben offenbarte sich das nahende Drama. Wen würde es treffen, Vater, Mutter oder eines der Kinder. Die Kleinsten hatten sich kühn aus dem Schutz der Gruppe gelöst. Töricht. Unverzeihlich. Mahnend rief die Wächterin in die Nacht. Am Flugplatz lauschten zwei Spaziergänger dem Ruf eines Käuzchens, fröstelten und gingen schneller. Der Fährtenleser war der Gruppe jetzt gefährlich nahe gekommen. Ein köstlicher Geruch ging von ihnen aus. Es war die Magie des Lebens. Sie jagte er, um selber überleben zu können. Ein Leben im Tausch für das Leben eines Anderen. In letzter Sekunde gab er seine geduckte Haltung auf. Pfeilschnell schoss er vor. Isolierte eines. Erfolgreich. Mit eisernem Würgegriff umschloss er ihre Kehle. Ließ sie zappeln, bis alles Leben verging. Von einer Minute auf die andere. Gevatter Tod war gnädig. Erst dann labte die Füchsin ihren Durst an dem kirschroten Blut der Häsin. Mit ihrem Opfer in der Schnauze lief die Fähe zurück zu ihrem Bau. Sie hatte Junge zu versorgen. Das Leben des einen für das Leben des Anderen. Ein Mord? Wohl kaum. Der seit einhundert Jahren bestehende Waldfriedhof war ihr Revier, der Fuchsbau ihr zuhause. Die Wächterin der Weisheit erhob sich von ihrem Ast, spreizte die Flügel und ließ sich von der Thermik tragen. Auch sie war auf der Jagd.
 

Wo die Stille singt - Von Kirsten Schwert

Die Frau trug einen kirschroten Mantel und ein Lächeln, das die wenigsten hier trugen, die meisten trugen schwarz und das Gesicht ohne Linien. Ich hatte sie noch nie hier gesehen und ich folgte ihr, auch wenn ich nicht wusste, warum und wohin ihr Weg sie führen würde. Sie schien keinen bestimmten Weg zu haben, und sie ging Wege, die ich nicht kannte, immer wieder bog sie ab, immer wieder blieb sie stehen, streichelte einen Stein und fuhr mit ihren Händen über Birkenrinden. Und immer wieder schien es mir, als hörte ich sie reden und die Antwort der Steine, hallo, wie geht es Ihnen, mir geht es gut, hier ist ein wunderbarer Ort, das finde ich auch, haben Sie das Leuchten der Bäume gesehen?, ja, im Herbst ist es fast am Schönsten. Und dann ging sie weiter in ihrem kirschroten Mantel und mit ihrem Lächeln und wenn ich zurückschaute, schien es mir, als ließe sie ihr Lächeln doch zurück, zwischen den Steinen und zum ersten Mal fiel mir auf, wie viel Platz es hier gab, zwischen den Steinen, das Dach der Bäume darüber gebeugt wie die Hand der Mutter über dem Kind. So viel Platz, so viel Luft zum Atmen, dachte ich, und ich lächelte selbst, auch wenn auch ich sonst an diesem Ort das Gesicht ohne Linien trug. Irgendwann verlor ich die Frau aus den Augen, für einen Moment hatte ich zu lange zurückgeschaut, um das Lächeln einzufangen, damit es noch einen Moment länger lächelte, auch für mich und ich rief hallo, auch wenn sie natürlich nicht wissen konnte, dass ich sie meinte, aber ich kannte ihren Namen nicht, nur die Steine trugen Namen. Hallo, fragte ich noch einmal vorsichtig, denn vielleicht stand die Frau hinter einem Baum, hier gab es so viele Bäume, hinter jedem Stein ein Baum, so als wenn jeder Stein einen Baum bräuchte, doch ich sah die Frau nicht, ich eilte weiter, und ich war froh, als ich sie entdeckte, zum Glück leuchtete ihr Mantel noch aus der Ferne. Sie stand etwas abseits, auf einer kleinen Lichtung, die ich noch nie beachtet hatte, doch jetzt zog sie mich an, Steine im Kreis, hinter jedem Stein ein Baum, so als hüteten die Bäume die Toten. Sie hatte sich dazu gestellt und wieder schien es mir, als hörte ich sie zusammen reden, die Steine einander zugewandt für das gemeinsame Gespräch und den guten Gedanken und mir war es, als hörte ich sie lachen, die Steine und sie, noch nie hatte ich Lachen gehört an diesem Ort, immer nur die verlorene Trauer. Jetzt hob die Frau ihren Blick und fing das Blatt der Buche, das vom Wind getragen vor ihr Gesicht wehte und hob eine Buchecker auf, die zu ihren Füßen lag. Sie trug das Blatt zu einem Stein, der ohne Baumhüter war, so als ob man den Baum vergessen hatte, legte das Blatt vor den Stein, grub mit ihren Händen ein Loch, legte die Frucht hinein und schob vorsichtig Erde darüber. Und als sie schließlich aufstand, lächelte sie mir zu und ging und ich ließ sie gehen, doch das Lächeln nahm ich mit und die Worte für meinen Vater. Als ich dann vor seinem Grab stand, spürte ich das Lächeln noch zwischen den Wangen und mir war, als hörte ich nun auch seine Stimme zwischen den vielen, die noch immer etwas zu sagen hatten und Ruhe feierten, ohne dass sie laut werden mussten. Schließlich nahm ich die Gießkanne, die hinter seinem Stein stand, ging zurück zu der Stelle, an der die Frau die Buchecker in den Boden geschoben hatte und goss ein wenig Wasser darüber. Jeder Mensch braucht einen Baum, dachte ich, und ja, dies ist ein wunderbarer Ort zum Wachsen, ein Ort, wo die Stille singt.
 

Die perfekte Beziehung - Von Annemarie Rosenke

Wie jeden Morgen betrat er den Friedhof durch den Haupteingang in ruhiger Gelassenheit. Er liebte dieses Ritual und genoss den Weg durch die Natur, vorbei an der Vielfalt der Bäume und Sträucher, und die Stille hier, nur untermalt von Vogelgezwitscher. Während er so vor sich herging, betrachtete er die einzelnen Gräber, manche wohl vergessen, andere liebevoll gestaltet. Jedes einzelne hat seine eigene Geschichte. Hier finden sich tragische Schicksale, viel zu früh, teilweise auch auf grausame Art, beendete oder auch erfüllte Leben. An kaum einem anderen Ort findet sich ein derart weit gefächertes Spektrum menschlichen Erlebens. Vor dem sehr gepflegten Grab seiner Frau blieb er stehen. Ihre Geschichte war wohl eine alltägliche. „Ich habe Dir Freesien mitgebracht, Ilse. Die magst Du doch so gern“. Zärtlich arrangierte er die Blumen in der Vase, rechts des Grabsteins. Ihr Verhältnis zueinander war nicht immer so harmonisch. Zu Lebzeiten hatten sie sich bekämpft. Genauer gesagt, war es schon nach der ersten Verliebtheit die Hölle – wohl für beide. Aus seiner Perspektive zerrte und nörgelte sie ständig an ihm herum, ließ ihn nie in Ruhe. „Tu dies, tu das, wieder hast Du nicht …“ Sie wollte ihn nach ihren Vorstellungen formen, ihn voll im Griff haben, und schrieb ihm sogar vor, wie er sich zu kleiden hatte. Nach anfänglicher Auflehnung resignierte er und ertrug alles mit stoischer Ruhe. Scheinbar, denn im Grunde war nun das Schweigen seine Waffe. So rieben sie sich aneinander auf. Er trug einen Diabetes davon, mangels der Süße des Lebens, sie ein schwaches Herz, durch ihre Verbitterung. Er hielt länger durch. Seit sie hier lag, hatte sich ihre Beziehung komplett gewandelt. Nüchtern betrachtet war es nun keine Ehe mehr, denn der Tod hatte sie ja geschieden. Doch auf dieser Ebene konnte er gut mit ihr leben und sich auf eine neue Frau einzulassen wäre ihm viel zu gefährlich. Er hatte Frieden geschlossen mit ihr und der Vergangenheit – etwas wehmütig ob der kostbaren Zeit, die sie so verloren hatten. Beim Verlassen des Platzes drehte er sich noch einmal um, schmunzelnd: „Ach Ilse, ich habe heute die kirschroten Baumwollsocken an, hatte sie damals wieder aus der Mülltonne gefischt. – Bis Morgen.“
 

Denn der Wind kann nicht lesen… - Von Robert Meyer

Ein heftiger Platzregen - schwer und kalt. Blitze flammen durch die unnatürliche Dunkelheit. Ein alter Mann steht verloren am Grab seiner Lebensliebe. Man könnte glauben, die regenschwere Kleidung beuge ihn noch mehr. Seine Tränen strömen mit denen des Himmels über das gebräunte Gesicht. Es scheint, als tröste es ihn, dass auch die Welt weint. Ähnliche Szenen hat Ernst in vielen Filmen gesehen. Doch heute entscheidet sich das Leben gegen jeden Kitsch: Dunst hängt über den Friedhofsflächen und die Sonne brennt schon am frühen Morgen unerträglich. Im gleißenden Licht verschmelzen Konturen von Kapelle, Bäumen und Grabmalen zu einem überbelichteten Bild. Und mittendrin steht er. Der Kopf schmerzt. Ernst ist seit Tagen wieder einmal nüchtern. Die Hitze presst alle Gedanken zusammen. Trotzdem erinnert er sich: 1959! In diesem Jahr hatte Margarethe sich in ihn verliebt. Damals, an einem Abend im März, waren sie im Kino: „Denn der Wind kann nicht lesen“; ein trauriger Film. Auf dem Heimweg hatte er dagegen eine freudige Nachricht: „Margarethe, lass uns noch feiern gehen. Ich kann für ein Jahr nach Australien!“ Sie wurde noch trauriger. An Bord der M.V. Aurelia erreichte er fünf Wochen darauf erreichte er Sydney. Nur zwei Monate später vergaß er, dass er nicht schwimmen konnte und sprang für Diana von einem Zehn-Meter-Turm ins Wasser. Doch schon bald lernte er Amber kennen - dann Sandy, Kathy, Jill und schließlich Susan. Mit ihr blieb er zusammen. Aus einem Jahr Australien wurden - zweiundfünfzig! Ernst weiß nicht, wo genau Margarethes Grab ist. Er schließt seine Augen und spürt tief in sich hinein. Trotz der brütenden Hitze fühlt er eine alte Wärme, die er nie vergessen hat. Er geht los. Es ist nicht so, als ob ihm seine australischen Beziehungen nichts gegeben hätten. Im Gegenteil: Diana war viel älter als er und aufregend lehrreich. Sie mochte seine kraftvolle deutsche Art. Doch bald langweilte sie sich mit ihm. Amber dann, war gebildet und elegant. Sie hatte Geld und bezahlte ihm eine Privatschule. Ernst interessierte sich jedoch mehr für die Filmwelt. Lernte Sprache lieber im Kino von den Stars aus Hollywood. Er brach die Schule ab - Amber darauf die Beziehung. Nach einigen kurzweiligen Affären, lernte er Susan kennen. Sie bauten sich ein Programmkino auf. Mit dreißig Plätzen und sechs Notsitzen. Viele Jahre betrieben sie es erfolgreich. Doch er zeigte immer seltener aktuelle Filme und es liefen nur noch eine handvoll Klassiker. Schließlich reichten die Notsitzplätze für die Vorstellungen aus. Oft schaute er ganz alleine die alten Schinken. Und wenn sich doch ein verliebtes Pärchen in eine Vorführung verirrte, beobachtete er verstohlen seine Gäste, die in den meisten Fällen ebenfalls nichts von dem Film mitbekamen. Susan verließ ihn. Auch ein neues Filmprogramm konnte das nicht verhindern. Und so kehrte er zurück nach Deutschland. Wieder auf einem Schiff. Als ob er mit der Umkehrung des Hinweges auch die Zeit zurückdrehen könne. Doch Margarethe war vor zwei Jahren verstorben. Und jetzt steht er tatsächlich vor ihrem Grab. Ernst liest die Inschrift auf dem schlichten Stein: Wenn auch die Worte geschrieben sind: „Nicht pflücket die Blüten! Sie sind lebend Wesen!“ Doch diese Zeichen vermögen nichts wider den Wind, denn der Wind kann nicht lesen. In schlechten Filmen würde ein alter Mann nun am Grab niedersinken, es würde aufhören zu regnen und der Horizont wäre in versöhnliches Licht getaucht. Doch so ist das Leben nicht.
 

Blümchen - Von Monica Vogel-Marin

Sie liegt schon den ganzen Tag da. Und hat ihr neues Kleid an. Das kirschrote. Wie eine Blume liegt sie da. Die Wangen sind rot gefärbt. Das steht ihr. Die Lippen – ihre Lippen sind auch rot. Hinter den geschlossenen Lidern - ihre tiefen blauen Augen. Ein Meer. Liebevoller Rausch. Trübes Meer, wenn ich zu viel spreche. Ich spreche zu viel und zu laut. Die Dohle. Sagen sie zu mir. Meine Stimme - zu grell. Das weiss ich schon. So oft haben sie es mir gesagt. Was ich dagegen machen soll – sie schweigen alle. Jetzt soll ich auch leise sprechen – sagt meine Tante. Leise und nicht so viel. Könnte ich sie wecken? Das Kinderlachen im Hof ist auch zu laut, sagt meine Tante und schliesst das Fenster. Dann wird es aber zu warm im Zimmer. Die Tante hat auch Kerzen angemacht. Viele Kerzen. Ich fühle mich gut. Ich bin gerne bei meiner Cousine. Ich möchte sie jetzt drücken. Ich muss aber nach draussen, den Kindern sagen sie haben im Garten nichts verloren. Sie sollen sich einen anderen Spielplatz suchen. Ich frage meine Tante, ob ich auch rote Fingernägel haben kann. Sie schaut mich an und sagt ja, du kannst. Dann sucht sie das Fläschchen mit der roten Lackfarbe. Wie lange schläft noch Blümchen, wollte ich wissen. Nur der liebe Gott weiss das, sagt meine Tante. Nicht zu laut soll ich sein. In den Garten treffe ich die anderen Kinder. Die erzählten mir, meine Cousine wäre nicht lange krank gewesen. War sie gar nicht, du Blödmann! Die hätte vieles falsch gemacht, sagte Peter. Seine Mutter hätte dem Vater gestern Abend beim Abendbrot das gesagt. Hat sie gar nichts gemacht, ihr flachen Köpfe! Woher soll das deine Mutter wissen? Das hat meine Tante ihr erzählt, weil die ja auch in der Stadt wohnt und die hätte das bei einer Nachbarin gehört. Blödkinder! Ihr seid nur blöd. Blümchen ist meine Lieblingscousine. Sie hat Schande über eure Familie gebracht. Das ist die doofe Ziege Ella. Was erzählst du da, du …. Deinen Mund stopfe ich mit Erde zu. Mit Erde und mit Gras. Mach dass du verschwindest, du …. Und schweig für immer. Jetzt bin ich alleine an der Birke im Hof. Ich halte noch ganz fest das Fläschchen mit dem roten Lack in der Hand. Die Hand ist blau. Ich schaue mir die Flasche an. Ich schreibe mit rotem Lack den Namen meiner Cousine auf der weissen Rinde. Die weisse Birkenrinde. Die rote Farbe. Die Knoten in der Rinde sind grau. Der Schnee ist in diesem Jahr anders. Ist mein Blümchen Schneewittchen? Mit weisser Haut und roten Lippen. Heute ist das Licht stark. Die Farben sind stärker. Die Fingernägel unter dem roten Lack – die waren heute grau. Wie die Knoten in der Rinde. Das stimmt nicht. Das stimmt nicht, genau wie die Worte der Kinder im Hof vorhin. Ich möchte Blümchen drücken. Im Zimmer ist es jetzt dunkel. Das Kerzenlicht ist warm. Die vielen Frauen unterhalten sich leise und erzählen über Blümchen – die schläft immer noch. Ist sie immer noch müde, Tantchen? Sie ist sehr müde, Kindchen, sie ist sehr müde. Es ist so spät. Die Dohle ist eingeflogen. Sie nimmt alles mit was glitzert. Sie nimmt auch Blümchen mit. Dorthin wo andere Kinder nicht das Sagen haben. Dorthin wo auch die Dohle sie besuchen kann. Und ihre Sprache lernen wird. Den Kindern stopfe ich den Mund mit Erde zu.
 

Uli, Fussballnarr - Von Daniela Rusack-Maaß

Es hatte aufgehört zu regnen. Die Maisonne schob die anthrazit gefärbte Wolkengirlande nach Norden. Langsam trottet Uli auf der Fußgängerbrücke, dem Haupteingang des Sennefriedhofs entgegen. Als er den breiten Eingang erreichte, kroch der Frühlingsduft langsam in seine Nase. Die Sonne hauchte dem Friedhof eine wohlige Atmosphäre ein. Uli ging hinter der Friedhofsverwaltung direkt zum Grab seines Opas, wie immer nach einem Heimspiel seiner „Blauen“. Er kam gerne auf diesen Friedhof, um seinem Opa nah zu sein. Es war die Ruhe nach dem Sturm. Er setzte sich auf die kleine Bank neben dem Grab und gab einen Monolog zum Spiel. Doch heute war es ein eher trauriger Bericht. Die Blauen hatten wieder verloren und ein Abstieg zum Saisonende war nicht mehr zu verhindern. Normalerweise war Uli zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ganz nüchtern. Eigentlich gab es nach den Spielen immer etwas zu feiern. Aber während des enttäuschenden Spieles, hatte er beschlossen, seine Fußball-Trauer in Mineralwasser zu ertränken. Uli schaute zu dem großen, alten Baum. Von der Baumkrone über die Birkenrinde bis hinunter zum schwarzen Grabstein. Eduard „Ede“ Lienenbecker war in den Stein eingraviert. Ede Lienenbecker war Anfang der sechziger Jahre ein gefeierter Linksaußen und hat in dieser Zeit maßgeblich zu den Vereinserfolgen beigetragen. Er war es auch, der Uli die Liebe zum Fußball und die Leidenschaft zur Arminia gab. Doch in diesem Moment hatte Uli das Gefühl, seine Leidenschaft geht ganz und gar verloren. Er stand auf, riss den Vereinsschal ab und knüllte ihn zusammen. Uli versuchte seinen Blick auf die Umgebung zu konzentrieren, auf den in üppig bunter Blütenpracht stehenden Friedhof. Er schlenderte auf dem breiten Weg in Richtung alte Kapelle. Die Zeit erlaubte es ihm und so beschloss er, einen ausgedehnten Spaziergang über den Friedhof zu machen. Sein Weg führte vorbei an dem Kriegsgräberstätten-Feld mit einem außergewöhnlichen Gedenkstein. Uli nahm die ausströmende Ruhe in sich auf. Er freundete sich mit der melancholischen Stimmung an und so gingen sie Hand in Hand. Nach einer ganzen Weile machte Uli vom Hauptweg einen kleinen Abstecher nach links. Nun stand er in einem Meer von großen, herrschaftlichen Familiengrabstätten mit phantasievoll gestalteten Skulpturen. Er fühlte sich wie in einer außergewöhnlichen Bildhauerausstellung. Plötzlich hörte er erst ganz leise und dann immer deutlicher ein fröhliches Kinderlachen. Er war erstaunt, so etwas passt nun überhaupt nicht in die Geräuschkulisse des Friedhofs. Er sah drei fröhliche Jungen. Einer von ihnen saß in einer kirschroten Schubkarre und die anderen zwei versuchten sie zu schieben. Nun erblickte Uli auch einen Gärtner, der mit einer Grabbepflanzung beschäftigt war. Offensichtlich gehörten die Jungs zu ihm. Für die drei Jungen war der Friedhof alles andere als eine Stätte der Ruhe. Auf einer Bank neben einem großen Hortensienbusch sah er ein junges Paar. Sie tauschten verlegene Blicke. Leises Klicken war zu hören. Gegenüber stand ein Mann, er machte Blumenaufnahmen. Bei diesen Beobachtungen wurde Uli ganz bewusst, wie facettenreich dieser wunderbare Friedhof sein kann. Er fühlte Zufriedenheit und beschloss in diesem Augenblick, nicht erst nach dem nächsten Heimspiel zu kommen, sondern einfach so, um den Zauber der Vielfältigkeit wieder zu erleben. Wer hätte gedacht, dass dieser verloren geglaubte Tag für den fußballverrückten Uli noch eine solch positiv, beschauliche Wendung nehmen würde.
 

Später Besuch - Von Heiko Wind

Der eiskalte Wind jagte braune Blätter über den frühwinterlichen Schnee, der sich als weißes Tuch über die Gräber gelegt hatte. Wie mit Messern stach er in sein Gesicht, nahm ihm fast die Luft zum Atmen. Niemand sonst schien hier unterwegs zu sein, fast fühlte er sich verloren in diesem eisigen Gestöber aus Blättern und Schneeflocken. Die früh hereinbrechende Dämmerung machte es ihm noch schwerer, sich zu orientieren. Wie war er nur auf diese blödsinnige Idee gekommen, ausgerechnet jetzt nach dem Grab zu suchen? Wieder jagte eine Sturmbö über das Gelände und ließ die Äste einer großen Birke, auf die er nun zuging, gefährlich schwanken, so als ob der Baum mit seinen Gliedern nach ihm greifen wolle. Eine Krähe war aufgeflogen, ein Stück Birkenrinde im Schnabel. Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: Dieser Ort hatte etwas Unheimliches, Bedrohliches, Schauerliches, jetzt sicher noch mehr als sonst, mehr als an einem sonnigen Nachmittag im Sommer, doch nur für die, die hier gingen. Diejenigen, die hier lagen, spürten all dies nicht, denn sie ruhten in Frieden. Aber ruhten sie wirklich, und wenn ja, ruhten sie in Frieden? Nie zuvor war er in Bielefeld gewesen, bis seine Mutter ihm vor wenigen Tagen auf ihrem Sterbebett in Köln den Namen seines Vaters genannt hatte, seines leiblichen Erzeugers, von dem er bis dahin nichts gewußt, nur vage etwas geahnt hatte, der ums Leben gekommen war beim großen Bombenangriff als Soldat auf Heimaturlaub. Den Namen hatte er sich auf dem Zettel notiert, den seine linke Hand in der Hosentasche fest umklammert hielt. Er passierte den Teich, auf dem sich eine erste Eisschicht gebildet hatte. Zu seiner Linken ragte die Kuppel der Alten Kapelle in den sich rasch verdunkelnden Himmel. Hatte man ihn hier offiziell betrauert und anschließend feierlich zu Grabe getragen? Oder hatte man seine Überreste nur eilig zusammengeklaubt und verscharrt und dann vergessen, wie so viele andere damals? Nie würde er es erfahren. Wo nur befand sich das gesuchte Gräberfeld? Vergeblich suchten seine vom Sturm geröteten Augen nach einem Hinweis. Da fiel ihm die Tafel ein, die er am Eingang entdeckt hatte. An der nächsten Wegkreuzung rechts, dann wieder rechts, dort etwa müßte es sein. Nachdem er einige Minuten in die vermutete Richtung gegangen war, erblickte er zwischen den hohen Bäumen ein freies Feld, an dessen Rändern er beim Näherkommen die uniform gestalteten Grabsteine erblickte, auch sie nun mit dem winterlich-weißen Tuch der Stille bedeckt. Es mochten hunderte sein. Wo sollte er mit der Suche beginnen, jetzt, in diesem Schneefall, bei schon verglimmendem Tageslicht? Sollte er nicht besser morgen wiederkommen? Würde er in der Dunkelheit seinen Rückweg finden? Plötzlich ein lautes Flügelschlagen. Die Krähe, noch immer das Stück Rinde im Schnabel, flog direkt über seinen Kopf hinweg, setzte sich auf einen der Steine und ließ die Rinde darauf fallen. Ihm war, als blicke ihm der Vogel direkt ins Gesicht, das ganze Tier schien einer Aufforderung gleichzukommen. Laß mich in Ruhe, du alter Totenvogel, meine Zeit ist noch lange nicht gekommen. Ein Krächzen und ruckartiges Kopfnicken, genau in seine Richtung. Eisige Kälte fuhr über seinen Rücken. Er fragte sich ernsthaft, ob dies ein Traum sei, eine Phantasie, womöglich war er in den Teich gestürzt und erfroren, stand bereits an der Schwelle. Nein, noch nicht. Er gab sich einen Ruck, ging auf das vogelbesetzte Grab zu, wieder ein lautes Krächzen, und der schwarze Bote flog davon. Der Suchende kniete nieder, wischte die dünne Schneeschicht fort – und hatte den gesuchten Namen vor Augen. Ewald Strothmann, gest. 30.09.1944. Nüchterne Lettern, in Stein gemeißelt. Der Schnee, die Kälte, die Dunkelheit – all das schien plötzlich verschwunden. Alles, was er noch spürte, war ein Gefühl der Geborgenheit. Er war am Ziel.
 

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